Aus der Praxis: Luisa Borgmann über den Bildungskurs Älterwerden ist nichts für Feiglinge für Menschen mit geistiger Behinderung
Wie können sich Menschen mit Behinderung auf das Alter und Altern vorbereiten? Und wie können Fachkräfte bspw. in Wohneinrichtungen sie dabei unterstützen? Eine Möglichkeit ist die Durchführung des Bildungskurses Älterwerden ist nichts für Feiglinge, den unsere Autorin Luisa Borgmann in ihrem Buch „Mit dem Alter(n) leben lernen“ detailliert aufbereitet. Lesen Sie dazu mehr im Interview.
Luisa Borgmann
Mit dem Alter(n) leben lernen
Biographiearbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Bildungskurs
2020. 180 Seiten. Kart. € 32,–
Inkl. Zusatzmaterial per Download
ISBN 978-3-17-038593-1
Frau Borgmann, Sie haben einen Bildungskurs zu Alter und Demenz für Menschen mit Behinderung entworfen. Wie kam es dazu?
Im Januar 2017 startete das dreijährige Projekt D_MENZ VERSTEHEN der Caritas Fachstelle Demenz Gelsenkirchen, in dem ich als Projektkoordinatorin tätig war. Das ursprüngliche Ziel des Projekts war es, Menschen mit geistiger Behinderung und Fachkräfte der Behindertenhilfe zum Thema Demenz fortzubilden und Informationen bereitzustellen. Durch Hospitationen, Befragungen und eine quantitative Datenerhebung (Ist- Stand- Analyse) bei unseren sechs Kooperationseinrichtungen aus der Behindertenhilfe wurde jedoch klar, dass es nicht nur viele Fragen zum Thema Demenz bei geistiger Behinderung gibt, sondern auch zur Lebensphase Alter viele Wissenslücken vorliegen. Durch einen oft erschwerten Zugang zu Bildung haben gerade Menschen mit geistiger Behinderung nur wenige Möglichkeiten, sich barrierefrei über altersbedingte Veränderungen und Krankheiten wie Demenz zu informieren. Im Zuge dessen haben sie häufig keine klaren Vorstellungen über die Facetten des Älterwerdens. Vor diesem Hintergrund ist der Bildungskurs Älterwerden ist nichts für Feiglinge entstanden.
Wie funktioniert Ihr Bildungskurs?
In 16 Modulen werden Sachverhalte rund um die Themen Älterwerden und Demenz praxisnah aufgearbeitet und mit eigenem biographischem Wissen verknüpft. Die Teilnehmenden setzen sich so mit sich selbst, altersbedingten Veränderungen und demenzspezifischen Verhaltensweisen ihrer betroffenen Mitmenschen auseinander. Gerade das biographische Arbeiten ermöglicht einen sanften Einstieg in die Bildungsarbeit und eröffnet im gesamten Bildungsangebot die Möglichkeit am und im eigenen Erfahrungsraum zu lernen. Ein weiteres Prinzip des Bildungskurses ist es, dass komplexe Sachverhalte in einzelne, leicht zu verstehende Bausteine gegliedert sind. Das Thema Demenz beginnt beispielsweise mit einem Modul zum Gehirn. Die Teilnehmenden lernen die Aufgaben des Gehirns kennen und erfahren, was passiert, wenn das Gehirn durch eine Demenz erkrankt. Darauf aufbauend werden in verschiedenen Modulen demenzspezifische Verhaltensänderungen und Symptome sowie Umgangs- und Kommunikationsstrategien besprochen.
Was sind die Ziele des Bildungskurses?
Ziel des Bildungskurses ist es, Menschen mit geistiger Behinderung zu ermächtigen (Empowerment), ihre Möglichkeiten und Potenziale im Alter besser zu entfalten. Es werden die erforderlichen Kompetenzen gefördert, sich mit den Anforderungen der Lebensphase Alter auseinanderzusetzen, diese zu bewältigen und aktiv mitzugestalten. Hinzu kommt, dass durch die barrierefreien Informationen und den intensiven Austausch zum Thema Demenz mehr Verständnis für die Lebenslage von Betroffenen aufgebracht, Streitigkeiten und Missverständnisse reduziert sowie die sozialen Fähigkeiten weiterentwickelt werden.
Welche Erfahrungen haben Sie bei der Durchführung des Bildungskurses gemacht?
Eine Lernassistenz und ich haben den Kurs versetzt über ein Jahr lang mit sechs Gruppen durchgeführt. Dabei wurde sehr deutlich, dass Lernen und Lehren ein interaktiver Prozess ist. Ich habe die Bildungsinhalte und Methoden kontinuierlich an den Resonanzen und Reaktionen der Teilnehmenden angepasst. Vergleiche ich heute die ersten drei Kurse mit den darauffolgenden drei Kursen, hat sich viel verändert. Zum Beispiel habe ich bei den meisten Methoden die Schriftsprache durch Piktogramme ersetzt, Themen herausgenommen bzw. ersetzt und eine Handpuppe als Medium hinzugenommen. Dabei waren die Teilnehmenden stets sehr motiviert. Verlief etwas mal nicht wie geplant, war niemand enttäuscht oder wollte nicht mehr kommen. Sehr einprägsam fand ich auch, wie die Gruppe zusammenwächst und Erfahrungen teilt. Die Teilnehmenden haben dadurch viel voneinander gelernt und auch ich durfte einen intensiven Einblick in ihre Lebenswelt bekommen.
Wie bewerten die Teilnehmenden den Bildungskurs? Welche Rückmeldungen haben Sie bekommen?
Die Anzahl der Bildungsangebote für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung nimmt zwar langsam zu, dennoch gehören sie immer noch eher zur Ausnahme als zur Regel. Aus diesem Grund war es für die meisten Teilnehmenden etwas ganz Besonderes, an einem wöchentlichen Bildungskurs teilzunehmen. Dies machte sich nicht nur über die positiven Rückmeldungen bemerkbar, sondern auch über die vielen netten Gesten und die Motivation der Teilnehmenden. Vor allem der Arbeitsordner, der ein fester Bestandteil des Bildungskurses ist, erfüllt viele Teilnehmende mit Stolz. Der Ordner wurde außerhalb der Gruppentreffen oft herumgezeigt, und ich bekam viele Anfragen von anderen Bewohnern und Besuchern der Einrichtung, wann und ob ein weiterer Kurs stattfinden wird. Sehr gute Rückmeldungen gab es auch von Mitarbeitern der Einrichtungen, die häufig eine positive Verhaltensänderung der Teilnehmenden feststellten.
Das Interview führte Elisabeth Häge aus dem Lektorat des Bereichs Pädagogik/ Soziale Arbeit.