Frau Prof. Lena S. Kaiser und Herr Prof. Norbert Neuß entwickeln in ihrem neuen Buch Ästhetisches Lernen im Vor- und Grundschulalter Handlungs- und Praxiskonzepte für den Elementar- und Primarbereich, die den Kindern über ihre ästhetischen Erfahrungen Bildungs- und Lernprozesse ermöglichen.
Frau Kaiser, Herr Neuß, warum sind ästhetische Erfahrungen für Kinder so bedeutsam?
Ästhetische Erfahrungen im Kindesalter sind als grundlegende Lernform zu verstehen, denn diese sind unmittelbar mit sinnlicher Erfahrung, Körpererfahrung und sensomotorischer Wahrnehmungserfahrung verknüpft. Alltägliche sinnliche Wahrnehmung mit der materiellen und sozialen Welt ermöglichen Kindern einen ganz besonderen Zugang. Ihr Begreifen der Welt beginnt sinnlich-ästhetisch und formt sich mit zunehmendem Alter symbolisch und kognitiv aus. Ästhetische Wahrnehmungen und Erkundungen sind die Grundlage der kindlichen Erfahrung. Nicht jede Wahrnehmung hat jedoch eine ästhetische Dimension der Weltaneignung, diese ist äußerst subjektiv: Während bei einem Kind vielleicht einfache Sandklumpen eine ästhetische Erfahrung hervorrufen, macht ein anderes Kind eine besondere beim Essen und ein weiteres beim Sammeln oder Zeichnen. Dabei geht es um das Hervortreten von Dingen und Erlebnissen in dieser besonderen Erfahrungsdimension.
Welche Arten ästhetischen Ausdrucks gibt es bei Kindern?
Ästhetische Erfahrungen beschränken sich nicht lediglich auf Wahrnehmung, sondern umfassen auch alle Formen der sinnlichen Ordnung und inneren Verarbeitungsweisen. Wenn Kinder das Wahrgenommene innerlich verarbeiten, werden die Aneignungs- und Verarbeitungsprozesse oft deutlich erkennbar: Sie ordnen, vergleichen, verknüpfen, konstruieren, versprachlichen und erweitern, deuten um und reflektieren. Mit der Verarbeitung von sinnlichen Wahrnehmungserlebnissen werden ästhetische Erfahrungen für Außenstehende erkennbar. Schon im Kleinkindalter sind die verschiedensten Formen zu beobachten: leibliches und zunächst zweckfreies Erkunden durch Berühren, Ertasten, Erschmecken und versinkendes Wahrnehmen. Später dann nutzen Kinder das Darstellen und Gestalten, das Spiel, die Zeichnungen und viele andere Formen als ästhetische Ausdrucksweisen. Dabei können Erwachsene darin die kindlichen Sichtweisen der Welt entdecken.
Das Sammeln hat einen ästhetischen Zugang und kann Bildungsprozesse beeinflussen. Was ist das Besondere an der Sammelleidenschaft der Kinder?
Erinnern Sie sich zunächst mal an Ihre Sammlung. Was haben Sie gesammelt? Wo wurde die Sammlung aufbewahrt? Wem wurde sie gezeigt? Dabei wird vielleicht schon deutlich, dass ein bloßes Ansehen gesammelter Gegenstände durch Erwachsene nicht ausreicht, um zu erfassen, worum es dem Sammler geht. An einem alten Schneckenhaus “hängt” vielleicht die Erinnerung an ein Spiel oder an einem Stein eine Urlaubserinnerung. Erst ein verstehender, sinndeutender Zugang eröffnet ein Verständnis dieser besonderen Ausdrucksform. Vielfach geht bei Kindern mit dieser Aufmerksamkeit eine ästhetische Verarbeitung als eine Form des Verstehens einher. Das Einordnen, Umordnen und Anordnen von Dingen in beispielsweise kleine Kästchen ist eine Weise des Systematisierens, des Verstehens und des handelnden (ordnenden) Umgangs – also Formen der ästhetischen Erkenntnis.
Was sagen Kinderzeichnungen über den Entwicklungsstand der Kinder aus?
Kinderzeichnungen wurden gern für die Diagnostik eingesetzt. In unserem Buch werden aber die zeichnerischen Symbolisierungsprozesse eher als Form der Selbst- und Welterkenntnis verstanden. Bildhafte Ausdrucksformen sind für Kinder eine unabdingbare Ausdrucksmöglichkeit ihres Inneren, ihrer angesammelten Wahrnehmungen und Erfahrungen. Während sie innerlich ungeordnet sind, erhalten sie in Form von Bildern Gestalt. Im Gegensatz zum sprachlichen Ausdruck, welcher bereits durch das Bewusstsein gefiltert wird, können durch das Malen auch unbewusste Impulse zum Ausdruck gebracht werden. Es sind mehr als bloße Abbildungen, es sind Vorgänge der Reflexion und eine Möglichkeit, sich selbst im Verhältnis zur Welt zu erfahren.
Was können Lehrerinnen und Lehrer tun, um Kinder verstärkt anzuregen ästhetisch zu handeln?
Die Erkundung von Welt und das Wahrnehmen und Erfahren von Differenziertheit und Vielfältigkeit sind Ausgangspunkte, um Fragen zu stellen und zu eigenen Deutungen der Wirklichkeit zu gelangen. Gleichzeitig geht damit aber auch einher, dass es Ideen und Zugangsweisen braucht, um Wirklichkeit differenziert wahrnehmen zu können. Ästhetische Erfahrungen können durch Lehrerinnen und Lehrer dadurch angeregt werden, dass sie pädagogische Arrangements (z. B. Atelier, Lernwerkstatt o.ä.) ermöglichen, um die spezifischen alltäglichen Tätigkeiten der Kinder zu berücksichtigen. Grundlegend dabei ist, sich als Lehrkraft der Bedeutungsoffenheit ästhetischen Ausdrucks zu stellen. Wer die Vielfältigkeit der Welt und Wirklichkeit vereindeutigen möchte, wird mit dem ästhetischen Ausdruck Schwierigkeiten haben. Leider verkommt Schulpädagogik dann zu einem Suchspiel für Kinder, bei dem sie die “richtige Bedeutung” (nämlich die vom Lehrer gemeinte) entdecken und aufsagen müssen. Für Lehrkräfte geht es aber darum, den Kindern durch ästhetische Ausdrucksweisen (z. B. sammeln und vergleichen, arrangieren und ordnen, tanzen und singen und vieles mehr) einen vielseitigen Zugang zu relevanten Themen zu ermöglichen. Diese Tätigkeiten sind aus Entwicklungsfeldern und -aufgaben der Kinder und den Grunddimensionen des kindlichen Lernens abgeleitet. Ästhetisches Lernen ermöglicht also besondere Lernwege und ist eine essentielle Erkenntnisform.